Vor ein paar Jahren stand ich auf einem Aussichtsturm in Sault Ste. Marie, Michigan, und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die andere Seite des Flusses. „Da möchte ich auch gerne mal hin …“

Sault Ste. Marie gibt es gleich zweimal: einmal in der kanadischen Provinz Ontario und einmal im US-Bundesstaat Michigan. Zufall ist das nicht, denn die Zwillingsstädte gehörten einmal zusammen, bis ein Krieg, ausgefochten von der Kolonialmacht Großbritannien und den Vereinigten Staaten, sie 1814 trennte.

Die Landesgrenze verläuft seitdem durch den breiten St. Mary’s River. Wer die Seite wechseln will, fährt über die hohe und lange International Bridge. Was ganz schnell gehen könnte, wenn da nicht immer die zeitraubenden Grenzkontrollen wären. Diese lästigen Formalitäten haben uns damals davon abgehalten, den Abstecher nach Kanada zu unternehmen, aber dieses Jahr konnte ich meiner Sehnsucht folgen.

Um das kanadische Sault Ste. Marie, die größere der beiden Städte, zu erkunden, hatten wir vorher beim Tourismusbüro angefragt, ob wir Fahrräder leihen könnten. Eigentlich war die Saison schon vorbei, aber die Stadt machte es möglich. Am vereinbarten Treffpunkt an der Marina übergibt uns Rick Borean, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, zwei gute, bequeme Fahrräder. Er fragt weder nach Geld noch nach Ausweisen, sondern wünscht uns mit einem freundlichen Lächeln eine gute Fahrt und einen schönen Tag.

Marina, Sault Ste. Marie, Ontario, Kanada

Marina in Sault Ste. Marie

Sault Ste. Marie – Gateway zwischen den großen Seen

In der frischen kühlen Luft des Septembermorgens radeln wir am St. Mary’s River entlang Richtung Osten durch die Uferparks, vorbei an der Art Gallery of Algoma, dem Kunstmuseum mit seinen Skulpturen, an historischen Gebäuden und bunten Muskoka Chairs mit Blick auf den in der Sonne glitzernden Fluss. Auf der US-amerikanischen Seite schiebt sich gerade ein schneeweißes Kreuzfahrtschiff durch die Soo Locks, die große Schleusenanlage.

Der St. Mary’s River ist keineswegs ein verträumtes Gewässer, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, sondern Teil des „Great Lakes-St. Lawrence Seaway“, einer bedeutenden Route der internationalen Schifffahrt. Der Fluss verbindet den Lake Superior, den größten Süßwassersee der Welt, mit dem Lake Huron. Der wiederum ist mit dem Lake Michigan verbunden und dem Lake Erie (kennt jeder aus dem Kreuzworträtsel), und von Letzterem führt ein Kanal zum Lake Ontario.

Bei Kingston am östlichen Ende des Lake Ontario nimmt der Sankt-Lorenz-Strom seinen Anfang, der drittgrößte Fluss Nordamerikas, und der fließt gemächlich und in seiner ganzen majestätischen Breite nach Nordosten Richtung Atlantik, wo er in den Golf von Sankt Lorenz mündet. Von diesem Ausgangspunkt legt ein Frachtschiff rund 3.700 Kilometer zurück, bis es im Hafen von Duluth, Minnesota, das westliche Ende des Lake Superior und damit der gesamten Route erreicht.

Die Soo Locks, betrieben von den USA, spielen eine wichtige Rolle beim Transport von Gütern und Rohstoffen zwischen den Großen Seen und der weiten Welt. Weil es häufig zu langen Wartezeiten kommt, sollen die beiden bestehenden Schleusen um eine dritte ergänzt werden. Deswegen schwenken über der Anlage, wie wir sehen, eine ganze Reihe Baukräne ihre Arme hin und her.

Biberdämme auf Whitefish Island

Am Nachmittag radeln wir an der Riverfront entlang zur „Sault Ste. Marie Canal National Historic Site“, einer historischen Schleuse auf kanadischer Seite, eingebettet in einen grünen Park. Sie wird nur noch von Sportbooten und Ausflugsschiffen genutzt. Von dort gelangt man auf Whitefish Island, eine kleine Insel im St. Mary’s River. „Die solltet ihr euch unbedingt anschauen“, hatte uns die Dame im Visitors Centre geraten.

Und dann finden wir uns in einer ganz anderen Welt wieder: üppig bewachsen wie ein Dschungel, mit schmalen Pfaden, die gerade breit genug sind für unsere Fahrräder. Ein Paradies, etwa für die Biber, die auf der Insel einen kleinen See aufgestaut haben. Von einem Aussichtspunkt aus sehen wir den Fluss mit seinen Stromschnellen – auf Französisch „sault“, und so hat die Stadt einmal ihren Namen bekommen. „Ste. Marie“, die heilige Maria, haben die jesuitischen Missionare hinzugefügt.

Als wir die Fahrräder zurückgeben, unterhalten wir uns noch eine Weile mit Rick. „Ich habe mein ganzes Leben in Sault Ste. Marie verbracht“, erzählt er, „mal abgesehen von meinen College-Jahren in North Bay. Mir gefällt es hier: der Lake Superior, die vielen Schiffe, die Berge weiter im Norden und natürlich Familie und Freunde.“

Ich frage ihn, wie die Leute mit dem langen Winter zurechtkommen. Rick lacht. „Jetzt im September werden sie bereits ein wenig unruhig. Wann kommt sie endlich, die kalte Jahreszeit? So schön der Sommer war, aber jetzt freuen sie sich aufs Rodeln und Skifahren, auf Eishockey und Eisangeln. Glaubt mir, uns wird hier nicht langweilig.“ Weil die Gegend im „Lake Superior Snow Belt“ liegt, kann es vorkommen, dass die Stadt unter einer mehrere Meter hohen Schneedecke versinkt.

Als wir die Leihgebühr für die Fahrräder bezahlen wollen, wehrt Rick ab. „Wir freuen uns, dass es euch bei uns gefallen hat.“ Und er gibt uns sogar noch ein Geschenk der Stadt: einen Becher mit einem Bild von Sault Ste. Marie, ein Fläschchen Ahornsirup in Form eines Ahornblatts und ein Päckchen Kaffee aus der örtlichen Rösterei. Wir fühlen uns wie VIP-Gäste!

Danke, Sault Ste. Marie, danke Rick, für deine Freundlichkeit!


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