„Grain elevators“, Getreidespeicher und -heber in einem, prägten lange Zeit das Gesicht der Landschaft im Westen Kanadas. „Kathedralen der Prärie“ oder „Wächter der Prärie“, so nennen die Kanadier sie liebevoll. In den weiten Ebenen von Alberta, Saskatchewan und Manitoba, inmitten endloser Getreidefelder, sah man die turmhohen Holzgebäude schon von weitem und wusste: Hier ist das nächste Dorf. Lange, bevor es detaillierte Straßenkarten oder GPS-Navigation gab, zeigten sie zuverlässig den Standort an, da sich auf jedem dieser Türme der Name der jeweiligen Ortschaft ablesen ließ.

Einst säumten Tausende von Grain Elevators die Eisenbahnstrecken, heute aber sind nur noch wenige hundert von ihnen übrig. Mit Wehmut lichten Fotografinnen und Fotografen sie ab, wohl wissend, dass auch die letzten dieser Prärie-Ikonen bald verschwunden sein könnten.

Grain Elevator in Shellbrook, Saskatchewan

Grain Elevator in Shellbrook, Saskatchewan

Ihre Geschichte begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als das Schienennetz der Eisenbahn überhaupt erst die Voraussetzung dafür schuf, dass die Prärie besiedelt werden konnte. Anfänglich brachten die Farmer ihr Getreide in Säcken zur Bahnstation, um sie nacheinander in einen der bereitstehenden Güterwaggons zu entleeren – ein mühsamer und zeitraubender Prozess. Es musste doch eine rationellere Methode geben! Und so erfanden findige Leute den Grain Elevator, eine Vorrichtung, wo das Getreide sowohl gelagert als auch umgeladen werden konnte. Betreiber waren entweder die Eisenbahngesellschaften, die Mühlenunternehmen oder regionale Kooperativen.


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Wie funktionierten diese, wörtlich übersetzt, „Getreideaufzüge“? Jede Umladestation bestand aus drei Grundelementen: der überdachten Auffahrt, der Hebevorrichtung und dem kombinierten Büro- und Maschinenraum. Der Farmer fuhr mit seinem Pferdefuhrwerk oder später mit seinem Lastwagen in die Auffahrt hinein, öffnete die unten angebrachten Ladeluken und ließ das Getreide in eine Grube herabrieseln. Eine Waage registrierte das Gewicht des Fahrzeugs vor und nach der Entladung, während ein Mitarbeiter Proben des Getreides nahm, um die Qualitätsstufe festzulegen. Menge und Qualität bestimmten den Kaufpreis, den der Farmer für sein Produkt erhielt.

Grain Elevator in Leask, Saskatchewan

Grain Elevator in Leask, Saskatchewan

Im Grain Elevator befand sich ein senkrechter Schaft, und darin verlief ein maschinell angetriebenes Förderband, an dem kleine Schaufeln befestigt waren. Die Schaufeln beförderten das Getreide aus der Grube bis hinauf an die Spitze des Turms, und von dort wurde es in die verschiedenen Speicherbehälter verteilt. Kam der nächste Güterzug mit seiner langen Reihe von Wagen, pumpte man das Getreide durch ein Rohr in die Waggons. Die Eisenbahn transportierte es zu den Häfen, und von dort wurde es in alle Welt verschifft.

Im Jahr 1933 zählte man 5.758 Grain Elevators, errichtet im Abstand von etwa 10 bis 15 Kilometern an den Eisenbahnlinien. Das war in etwa die Strecke, die ein vollbeladenes Pferdefuhrwerk zurücklegen konnte. Die Getreidespeicher hatten aber nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine wichtige kulturelle Bedeutung, bildeten sie doch den Mittelpunkt der ländlichen Gemeinden. Hier kamen die Farmer aus der Umgebung zusammen, teilten Wissen und Erfahrungen miteinander und tauschten Neuigkeiten aus.

Grain Elevator in Nanton, Alberta

Canadian Grain Elevator Discovery Centre, Nanton, Alberta

Als aber immer größere und stärker motorisierte Trucks den Transport des Getreides über deutlich weitere Strecken ermöglichten, da erwiesen sich die bestehenden Grain Elevators als unzureichend, und außerdem brauchte man nicht mehr so viele von ihnen. Größere Anlagen aus Beton oder Stahl wurden gebaut, und die Betreiber begannen, die alten Getreidespeicher abzureißen. Es war schlicht zu aufwendig, die Holzkonstruktionen, die zudem leicht in Brand geraten konnten, instand zu halten.

Dieser Prozess ist bis heute im Gange. Einige der Speicher sind noch in Betrieb und können mithilfe von Anbauten ihren Dienst versehen, andere werden in Museen umgewandelt, und manchmal kauft eine Gemeinde den örtlichen Getreidespeicher, um ihn als Wahrzeichen zu erhalten. Doch die meisten, die noch zu sehen sind, verfallen weiter. Das Holz wird grau und rissig, und der Regen wäscht mit der Zeit die Aufschrift ab.

Mit den Grain Elevators verschwindet unwiederbringlich auch ein Teil der kanadischen Geschichte. Umso wichtiger ist es, ihnen wenigstens fotografisch ein Denkmal zu setzen.


Gute Informationen zu den Funktionen eines Grain Elevators finden sich in dem folgenden Video: How a Grain Elevator Works and Why I Think They Are Amazing Structures – YouTube