Bei der Landspitze Martin’s Point, die zum Gros Morne National Park in Neufundland gehört, liegt ein Schiffswrack, das über hundert Jahre alt ist: die SS Ethie. Wie es zu dem Schiffsunglück gekommen ist, davon erzählt die folgende Geschichte:

Teil 2 von Die letzte Reise der SS Ethie

Wenig später versammelten sich die Passagiere an Deck. Niemand sagte ein Wort. Elizabeth Patten, bleich, aber gefasst, hatte ihre Tochter in mehrere Decken gewickelt und trug sie auf dem Arm.

Es war ein hochriskantes Manöver, das Schiff inmitten des tosenden Meeres in Richtung Strand zu steuern. Wütend peitschten die Wellen über die vorgelagerten Felsen hinweg. Der Dampfer näherte sich in voller Fahrt, eine Riesenwelle trug ihn über das Riff hinweg, die SS Ethie schien zu fliegen – dann setzte sie auf. Ein heftiger Ruck erschütterte das ganze Schiff, der Rumpf knirschte und knackte … Würde es sich zur Seite legen und damit das Schicksal der Menschen besiegeln? Doch der Dampfer, als wäre er sich seiner Verantwortung bewusst, blieb aufrecht stecken, wo er war.

Zum Aufatmen blieb jedoch keine Zeit. Das Heck war beschädigt, ebenso das Ruder, und womöglich hatte auch der Dampfkessel Schaden genommen. Jeden Moment konnte er explodieren! Kapitän English drängte zur Eile. Die Menschen mussten schnell an Land geschafft werden. Nur – wie sollte das gehen? Die Flut stand hoch, wilde Wogen umtanzten auf allen Seiten das Schiff. Wer im eiskalten Wasser gelandet wäre, hätte kaum Überlebenschancen gehabt.

In Martin’s Point wohnte ein Fischer namens Reuben Decker. Der hatte von seinem Haus oben an den Klippen das Manöver der SS Ethie beobachtet und war zum Strand hinuntergelaufen, um zu helfen.

Als der Kapitän ihn sah, kam ihm die rettende Idee. Wenn es einer schaffen würde, so dachte er, dann sein Hund, ein schwarzer Neufundländer, der Wasser liebte, dem Kälte nichts ausmachte und der darüber hinaus klug und gelehrig war. English ließ einen Rettungsring, an dem man zuvor ein dünnes Seil befestigt hatte, ins Meer werfen. Dann schärfte er seinem Hund ein, was zu tun war. Er ließ ihn in die Wellen hinunter, und das treue Tier steckte seinen Kopf durch den Ring und schwamm los. Unbeirrt kämpfte es sich durch das aufgewühlte Meer, und bald konnte der Fischer Hund und Rettungsring an Land ziehen.

Nun ging alles Schlag auf Schlag. In fliegender Hast banden die Seeleute auf dem Schiff ein dickes Seil an das dünne, und Decker zog auch das zu sich hinüber, bis es straff gespannt war. An dem Tau wurde ein sogenannter Bootsmannstuhl eingehängt, ein einfacher Sitz aus Segeltuch, an dem auf jeder Seite ein Seil befestigt war. Walter Young, der Purser des Schiffs, sollte die Konstruktion testen. Er schwang sich auf den Schaukelsitz und glitt wie ein Zirkusartist auf der improvisierten Seilbahn hinüber zum Strand. Es funktionierte! Ein hoffnungsvolles Raunen ging durch die Menge an Deck.

Als Nächstes war die kleine Hilda an der Reihe, das einzige Kind an Bord.
„Das Mädchen wird in einem Postsack transportiert“, entschied der Kapitän.
„Auf keinen Fall“, rief Elizabeth, „ich werde sie tragen!“
„Unsinn“, erwiderte der Kapitän barsch, „Sie brauchen beide Hände, um sich selbst festzuhalten. Los jetzt, wir haben keine Zeit zu verlieren!“

„Das waren die schlimmsten Minuten, die ich je erlebt habe“, erzählte Elizabeth später. „Meine arme Kleine! Ich hatte solche Angst um sie, als sie in diesem Postsack über dem aufgewühlten Meer hing.“

Aber Young und Decker zogen die kostbare Fracht sicher ans feste Land. Danach durften die Frauen das Schiff verlassen, dann die männlichen Passagiere und die Besatzung. Als Letzter ging, wie es sich gehörte, der Kapitän von Bord. Sein Hund unten am Strand begrüßte ihn mit begeistertem Gebell. English stieß einen Seufzer der Erleichterung aus – alle 72 Passagiere und die 20 Männer der Crew waren in Sicherheit und wohlauf. Manchmal ließ das Schicksal tatsächlich Wunder geschehen.

Die Rettungsaktion hatte mehrere Stunden gedauert, und es wurde bereits wieder dunkel. Die Schiffbrüchigen, müde und erschöpft, aber glücklich, durften bei den Fischerfamilien in Martin’s Point übernachten. Mit so vielen Menschen ging es in den wenigen Häusern mehr als eng zu, aber jeder bekam heißen Tee, Brot und Fisch, und niemand musste frieren.


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Die Geschichte von der gelungenen Rettung verbreitete sich schnell über die ganze Insel. Jeder, der sie erzählte, schmückte sie ein wenig aus und fügte spannende Details hinzu. Neufundland hatte eine neue Legende.

Über manche Einzelheiten wurde noch Jahrzehnte später hitzig diskutiert. War tatsächlich ein Hund beteiligt gewesen? Die Tochter des Kapitäns wollte schwören, dass der Neufundländer der Familie eine heldenhafte Rolle gespielt hatte. Oh nein, widersprachen andere, der Held des Tages sei Deckers Collie-Mischling gewesen. Die dritte Fraktion wiederum hielt die Sache mit dem Hund für reine Phantasie.

Der havarierte Dampfer blieb an dem steinigen Strand und fing an, vor sich hin zu rosten. Heute ist das Wrack eine Touristenattraktion. Wer aber noch etwas davon sehen will, sollte sich beeilen, denn Meer und Wind haben das alte Schiff in den letzten hundert Jahren gründlich zerlegt und die meisten Teile abgetragen. Eines Tages werden die rostigen Zeugen dieser letzten Reise der SS Ethie ganz verschwunden sein. Was bleibt, ist die Legende. Ob mit oder ohne Hund.